
10 Monate alt, Krabbeln, Hochziehen, Regale ausräumen? Mitnichten.
Zitat von 20.12.2004Wir wachen völlig kaputt auf. Linn war ständig wach und auch mal über eine Stunde durchgängig. Trotzdem geht es los zur Physiotherapie. Schon der kurze Weg zur Straßenbahn im Kinderwagen scheint für Linn unerträglich, sie weint und kämpft, dass ich ihr Gesicht vor lauter Überstreckung kaum sehen kann. Also raus aus dem Kinderwagen, es wird nicht besser. Die Bahn kommt nicht, wieso eigentlich? Auf dem Plan sehe ich, dass sie gestrichen ist, Linn springt mir fast vom Arm, ich bin dem Heulen nahe und beschließe, wieder nach Hause zu gehen. Das ist gar nicht so einfach, denn ein sich überstreckendes Baby auf dem Arm plus Kinderwagenschieben ist einfach zuviel. Zuhause lässt sie sich nach längerer Zeit wieder beruhigen und schläft im Arm ein. Den ganzen Tag über jammert sie, schläft aber auch viel.
Ich wollte einen Beitrag schreiben, wie es war damals ohne Selbsthilfe. Die Beiträge von damals zeigen mir, dass es noch viel schlimmer war als die Erinnerung. Das war unser Alltag. Linn war nur am Kämpfen mit sich und der Welt, fast nur unzufrieden, keine Ruhe, Schlafen am Stück unmöglich. Kinderwagen, Autositz, Tragetuch, nichts war mehr möglich. Wir waren immobil, oft im Krankenhaus und immer mehr isoliert.
Jetzt ist uns klar, was da los war, weil wir auch von anderen Familien immer wieder das selbe berichtet bekommen (haben). Linn hatte Sodbrennen und Magenschmerzen, eines der ganz typischen Probleme bei PCH 2, an das man in dieser Dimension niemand bei einem Baby denkt. Jetzt können wir zusammen andere Familien beraten, wir wussten es damals einfach nicht. Unser "Glück" war, dass sich irgendwann die Magenschleimhaut so entzündet hat, dass wir blutiges Magensekret aus der Sonde zogen. Wir probierten Omeprazol aus und ein Wunder geschah. So ruhig und zufrieden hatten wir Linn seit Monaten nicht erlebt. 14 Jahre später immer noch eins der wichtigsten Medikamente.
Ich will gar nicht sagen, dass früher alles schlimmer war. Wir hatten auch Vorteile, finden wir. Ohne Diagnose hatten wir keine Prognose, weder die mit der wenigen motorischen und kognitiven Entwicklung, noch die mit der Lebenslimitierung. Wir hatten Zeit, Hoffnung zu haben und langsam in die Wahrheit einer schwersten Mehrfachbehinderung reinzuwachsen. Erst ein Jahr nachdem wir unsere Tochter mit 16 Monaten fast verloren hätten, haben wir durch die Diagnose von der begrenzten Lebenserwartung erfahren. Und naja, was ist schon Lebenserwartung? Hier ist wieder die Erkrankung zu selten, die Zahlen zu gering. Wir haben einige, leider auch frühe Sternenkinder in der Gruppe, aber gerade haben wir eine junge Frau mit 30 Jahren und PCH 2 kennengelernt, die die bisher ältesten PCHler mit 26 Jahren plötzlich in den Schatten stellte.
Schon mit 1,5 Monaten haben wir in der Sondenkinder-Emailgruppe und im REHAkids-Forum Austausch und Informationen gefunden, die wir für uns nutzen, aber auch anderen helfen konnten. Geben und Nehmen. Denn das fiel im realen Alltag fast ganz weg. Weder konnten wir anderen noch gute Freunde oder Familienangehörige sein, weil keinerlei Kapazitäten übrig waren, noch konnte man uns helfen. Man konnte uns beistehen, aber wirklich helfen war einfach nicht möglich. In der Selbsthilfe konnten wir sowohl helfen als auch Hilfe erhalten.
Der größte Schritt war allerdings, als wir auf die erste andere Familie mit PCH 2 trafen, allerdings noch ohne klare Diagnose. Aber die Ähnlichkeiten waren unglaublich, endlich jemand, der genau wusste, was man da erlebte! Ich kann es kaum beschreiben, wie man sich da freuen kann.
So bauten wir nach und nach die deutschsprachige Selbsthilfe für pontocerebelläre Hypoplasie auf, zu der mittlerweile schon über 50 Familien Kontakt aufgenommen haben. Wir erlebten zusammen die Veröffentlichung der Genmutation, lernten viele Familien kennen, lasen deren Wege mit den Symptomen und den Problemen. So manches mussten wir nicht mehr falsch machen, weil schon jemand anderes vorher es probiert hatte. Die wiederum konnten auf etwas aus unseren Berichten zurückgreifen. Wir haben Studien und Daten gesammelt und sogar auch Studien initiiert. Und auch 2019 ist eine seltene Erkrankung etwas oft unbekanntes und selten hat einE niedergelasseneR Kinderarzt/Kinderärztin mehrere Kinder damit in der Betreuung. Nicht mal in den sozialpädiatrischen Zentren gibt es immer mehrere Kinder mit der Erkrankung.
Linn ist nun 15 Jahre alt, schon fast 10 Jahre große Schwester. Wir stünden in unserem Leben nicht an der selben Stelle, wenn wir die Selbsthilfe nicht gehabt hätten. Unser großes Ziel ist, dass alle mit dieser Erkrankung schnelle und gute Hilfe erhalten, damit ein Leben mit guter Lebensqualität für alle Familienmitglieder möglich ist.
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